GRIECHISCH - DORISCHE ORDNUNG

Wenn auch Griechenland nicht die Wiege der Baukunst ist, so ist doch in diesem klassischen Lande aller schönen Künste, besonders sie zu der grössten Vollkommenheit gediehen. Unter den griechischen Monumenten hat man die reinsten Muster gesucht und sie auch da nur gefunden. Dorther entnehmen wir also die ersten Beispiele der antiken dorischen Ordnung, welcher wir die römisch-dorische und die hiernach gebildeten Ordnungen der neuern Meister folgen lassen.

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VOM PARTHENON ZU ATHEN.

TAFEL V.

Wir beginnen mit dem Parthenon zu Athen, das von allen griechischen Tempeln, wegen der Schönheit des Ganzen und der Reinheit der einzelnen Theile, am meisten geschätzt wird. Man glaubt, dass es unter Perikles, einige Jahre nach dem Tempel des Theseus, erbaut wurde, und dass dieser dem berühmten Iktinus und dem Bildhauer Kallikrates, welche das Parthenon erbauten, zum Vorbild diente. Die Grundfläche dieses Tempels ist ein Rechteck mit acht Säulen auf beiden Fronten und mit siebzehn Säulen (wenn man die Ecksäulen doppelt rechnet) auf den Seiten, welche eine Halle ringsum bilden. Das von diesen Säulen getragene Gebälk hat auf den Giebeln Frontons, deren Spitzen den Forst des Daches bilden, das diese bewundernswürdige, kräftige und zugleich leichte Masse bedeckt. *)

*) Es muss bemerkt werden, dass im Original das leichte Schnitzwerk der drei untersten Glieder, bestehend in einem Eier- und einem Perlenstabe von Herrn Normand weggelassen worden, vielleicht weil er dieses für Anten dorischer Ordnung nicht passend hielt. Im Allgemeinen möchte dieses wohl der Fall sein. Hier aber scheint der Perlenstab unter den Dielenköpfen im Gebälk zugleich eine Berechtigung des Antencapitäls zu einigem Schmuck anzudeuten; deshalb haben wir hier dasselbe nach den Quellen berichtigt.


VOM TEMPEL DES THESEUS ZU ATHEN.

TAFEL VI.

Obgleich der Tempel des Theseus kleiner als das Parthenon ist, so verdient er doch in gleichem Maaße die Aufmerksamkeit der Baumeister. Seine Verhältnisse sind so vollkommen, der Gesammteindruck so befriedigend, dass beide Tempel I) zusammen unter allen vorhandenen Monumenten die besten Muster dieser Ordnung darbieten. Man kann hier bemerken, dass die Dielenköpfe über den Triglyphen und Metopen viel stärker sind, als die im Kranze des Parthenon. Dieser Tempel hat sechs Säulen auf den Giebeln und dreizehn auf den Seiten, welche gleichfalls ringsum eine Halle bilden.

VOM GROSSEN TEMPEL ZU PAESTUM.

TAFEL VII.

Der grosse Tempel zu Paestum zeigt nicht dieselbe Zierlichkeit, wie das Parthenon und der Theseus-Tempel. Er scheint der Kindheit der Kunst oder vielmehr der Zeit anzugehören, wo sie schon in Verfall gerieth. Die kurzen Säulen mit weit ausladenden und verhältnissmäßig niedrigen Capitälen scheinen erdrückt unter der Last des Gebälks, bei dem man ungern die Bekrönung der hängenden Platte entbehrt. Aber dennoch ist der Gesammteindruck dieses Gebäudes sehr imposant 2).
Vergleicht man dieses Monument mit den beiden vorhergehenden, die zum wenigsten in den einzelnen Theilen weit vorzüglicher sind, so begreift man nicht, warum der Name Paestum im Allgemeinen zur Bezeichnung dieser Ordnung gebraucht wird, weil man sie mit weit grösserm Recht die griechische oder atheniensische Ordnung nennen könnte. Dieser Tempel hat ebenfalls sechs Säulen vorn und vierzehn auf der Seite, welche, wie bei den erwähnten Tempeln, ringsum eine Halle bilden 3). - Man findet in Sicilien noch andere Ueberreste von Tempeln, deren Säulen einen noch grössern Durchmesser haben, als die Säulen von Paestum, die man schon colossal nennen kann; aber diese Tempel imponiren nur durch ihre Masse, ohne etwas besonderes zu haben, das der Kunst einigen Nutzen gewähren könnte.

1) Die Beschreibung dieser beiden Tempel und das Historische darüber findet man in der Uebersetzung des Stuart'schen Werks durch Herrn Landon; im 2ten Bande 1sten Capitel, Seite 39., Taf. 16., den Tempel des Theseus, und im 3ten Bande 1sten Capitel, Seite 15., Tafel 6., das Parthenon.

2) Wir haben diese Platte nach den Details gestochen, welche Delagardette von diesem Tempel mit allem Geschmack giebt, den er sich durch die Bewunderung der alten Monumente Grossgriechenlands angebildet hatte. Er hatte die Absicht, durch das ganze Königreich Neapel seine Untersuchungen zu verfolgen, und seine ausserordentliche Genauigkeit lässt es um so mehr bedauern, dass Umstände die Ausführung dieses Vorhabens verhindert haben.

3) Es ist zu bemerken, dass die Ecksäulen dieses Monuments etwas stärker sind als die übrigen, und dass die letzte Säulenweite um ungefähr drei Viertel Modul geringer ist.
Vitruv giebt im 3ten Buche, Taf. 20., die Regel, dass bei diesen Tempeln die Ecksäulen nicht lothrecht stehen, sondern gegen die Wände des Tempels um so viel geneigt sein sollen, als die Verjüngung der Säulen beträgt. Bei den angeführten drei Tempeln ist jedoch hiervon nichts zu bemerken, und diese Regel scheint nur auf einer besondern Ansicht Vitruv's zu beruhen *).

*) Vitruv verlangt, dass man die Ecksäulen um den fünfzigsten Theil stärker machen solle, als die übrigen, weil sie sich schärfer gegen die Luft abschneiden und also schwächer erscheinen. Bei vielen Monumenten findet man diese Regel beobachtet. Ferner will er diese Ecksäulen sowohl, als auch die übrigen, die in einer Flucht mit ihnen auf den Seiten des Tempels stehen, so gegen die Zellenmauern neigen, dass ihre Hinterseite senkrecht steht, und dass die ganze Verjüngung sich auf der äussern Seite befindet, so dass also die Axe um den Winkel der Verjüngung geneigt ist. Die mannichfaltigen Schwierigkeiten und Constructionswidrigkeiten, worin man durch eine solche Anordnung gerathen würde, sucht Hirt in seiner "Baukunst nach den Grundsätzen der Alten," Seite 57. u.s.w., zu beseitigen. Aus dem Alterthume ist mir nur ein Beispiel bekannt, wo die Säulen nach Vitruvs Angabe gestellt sind, und das ist der runde Tempel der Vesta zu Tivoli.
Dass aber eine solche Stellung wirklich constructionswidrig sei, geht aus Desgo- Worten hervor, der diesen Tempel im 1sten Bande seiner "römischen Alterthümer," Seite 42., beschreibt, indem er sagt: Some of the columns do indeed stand plumb, but it is probable, they have been set upright by the ruins.
Es haben also einige Säulen ihren lothrechten Stand durch den Verfall wieder vindicirt. Im Allgemeinen lässt sich es nie rechtfertigen, wenn man dem Naturgemässen in der Baukunst optischer Täuschung zu Gefallen Gewalt anthut, aber Vitruv scheint dergleichen zu lieben. (d.H.)
Quelle:
Vergleichende Darstellung der Architectonischen Ordnungen
der Griechen und Römer und der neueren Baumeister
Herausgegeben und gezeichnet von Carl Normand
Architecten und ehemaligem Pensionair an der französischen Academie zu Rom
Erste Deutsche Berichtigte Ausgabe von M.H Jacobi.
Königl. preuss. Regierungs-Bau-Conducteur
mit fünf und sechszig Kupfertafeln.
Potsdam, 1830. Verlag von Ferdinand Riegel.

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